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Martin v. Reinersdorff

Martin v. Reinersdorff

Los Lassen

Kann das Neue – was in unsicheren Zeiten entsteht – besser werden als das, was wir kannten?

Jedenfalls finde ich den Gedanken ermutigend, und vielleicht brauche ich auch genau diese Zuversicht, dieses positive Bild, um überhaupt loszulassen. Vielleicht gibt mir die Lust am Neuen erst die Kraft, mich auf’s Loslassen einzulassen?

Aktuell sehe ich überall Prozesse des Loslassens. neben den im Eingangstext erwähnten absagen von privaten Feiern streichen Veranstalter eine Messe nach der anderen. und über den Wegfall vom Oktoberfest und Karneval ist ausreichend berichtet worden.

In den Büros haben viele losgelassen und sich von der Präsenzkultur verabschiedet. Über Jahre vertraute arbeitsprozesse verändern sich bzw. scheinen sich womöglich auf Dauer zu verabschieden. Wir alle könnten diese kleine Aufzählung beliebig fortsetzen. und wir schauen ganz individuell auf die verschiedenen Dinge, die nun nicht mehr sind.

Was der einen leichter fällt bedeutet für den anderen eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität. Was ich aber auch sehe sind die teils gravierenden Veränderungen auf der einen Seite und die vielen kreativen Lösungen auf der anderen Seite.

Da öffnet sich ein Raum in dem auf einmal Dinge möglich werden, welche vor Jahresfrist undenkbar waren. Ich denke z.B. an einen ehemaligen Kollegen: seit März arbeitet er ausschließlich zu Hause und wenn er ins Büro will, muss er vorab ein Ticket ziehen, um ins Office zu dürfen.

Verglichen mit der doch deutlich ausgeprägten Präsenzkultur in unserer Arbeitswelt ist diese Veränderung – gelinde gesagt – erstaunlich.

Bisher musste man schon gute Argumente sammeln, um z.B. einen Tag pro Woche örtlich flexibel zu arbeiten. Und wenn’s genehmigt wurde und wir dann zu Hause doch nebenbei die Wäsche gewaschen oder einen lang geplanten Facharzttermin wahrgenommen haben – Hand aufs Herz – hat sich das schlechte Gewissen gemeldet. Ganz zu schweigen vom Neid der Kolleg*innen, welche erst gar nicht für sich einen tag im Homeoffice einfordern konnten.

Dieser besondere Raum – in dem das viele Neue auf einmal möglich wird – lohnt einen tieferen Blick.

Dieser Raum kennzeichnet eine eigenwillige Mischung aus Notwendigkeit, staatlicher Regulierung bis hin zu Eingriffen in unsere Grundrechte, Unklarheit über den weiteren Fortgang der Pandemie, wirtschaftliche Verwerfungen und die Weiterentwicklung digitaler Optionen. Keine einfache Konstellation und mitunter voller Zumutungen und Ambivalenzen. In naher Zukunft wird es dennoch darauf ankommen, in diesem besonderen Raum zu agieren.

Es geht darum, diesen Raum auszuhalten. und ich wage die These – trotz al- ler wirtschaftlichen Schwierigkeiten (und als selbstständiger Unternehmer weiß ich ungefähr wovon ich schreibe) -, dass wir diesen Raum nicht nur aushalten, sondern gestalten sollten. Denn die darin entstehende Kreativität kann uns genau den Mut geben, um immer wieder loszulassen. sei es gewollt oder auch mal wie- der ungewollt. Wer weiß.

Was genau kennzeichnet diesen besonderen Raum? Aus der Organisations- entwicklung kennen wir das sogenannte VUCA-Modell: Es geht um V=volatility (Volatilität), U=uncertainty (Unsicherheit), C=complexity (Komplexität) und A=ambiguity (Mehrdeutigkeit). Dieses Modell – entwickelt für Organisationen – hat in der aktuellen Zeit hilfreiche Impulse für uns alle bereit.

Unsicherheit:

Gerade weil wir in Zukunft mit einem gewissen Maß an Unsicherheit werden leben müssen brauchen wir immer wieder Aufbrüche auf unbekannten Wegen.

Unser Leben wird weiterhin unplanbar bleiben. Auch wenn es bisher so schien, als ob wir das manchmal vergessen hatten. Die Unplanbarkeit ist die konkrete Ausprägung der neuen Unsicherheit.

Zudem werden die digitale Transformation und die sich daraus ergebenden Chancen unsere Arbeitsprozesse mit immer höherer Geschwindigkeit verändern. Das führt unweigerlich zu neuen Unsicherheiten, bis sich jede und jeder von uns das Neue angeeignet hat.

Ambiguität:

Ambiguität könnte in diesem Zusammenhang bedeuten, „Widersprüche und Ambivalenzen nicht als aufzulösende Probleme wahrzunehmen, sondern als eine zu akzeptierende Gegebenheit, zu der man reflexiv Distanz gewinnt“ (Andreas Reckwitz).

Eine Ambiguitätstolerenz könnte dann bedeuten, die besonderen Rahmenbedingungen des oben skizzierten Raumes zu akzeptieren und mit ihnen zu leben.

Das würde auch bedeuten, nicht auf die Rückkehr unseres bisherigen Lebens zu hoffen. Es geht darum, mit den bestehenden Zumutungen und Widersprüchen zu leben. Wie kann das gehen? Wir erleben es gerade überall.

Hybride Arbeitsmodelle aus Präsenz im Office und Homeoffice sind inzwischen das neue Normal. Wir alle möchten die neue Flexibilität durch Video-Calls nicht mehr missen. Und zugleich ahnen wir:

Präsenz ist das neue Premium.

Und genau genommen ist das flexible Arbeiten selbst nicht neu: Technologisch war Homeoffice schon seit vielen Jahren möglich. Wenn wir die aktuelle Situation gut gestalten, kann sogar Platz für echte Innovationen entstehen.

Kurzum: Es geht darum, mutig die nächsten Schritte zu gehen. Das ist die Kernkompetenz in unsicheren und ambivalenten Zeiten. Kleine Schritte auf wackeligem Grund. Dafür brauchen wir die Zuversicht, dass das Neue was kommt, besser wird, als das was wir kannten.

Das gelingt schon jetzt jeden Tag.

Warum? Weil der besondere Raum mit seiner Mischung aus Notwendigkeit und Ausschöpfung digitaler Möglichkeiten Kreativität generiert und dadurch Lust macht auf das, was neu entsteht.

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